Wissenschaft als Lernprozess

Anhand von Big History lässt sich einiges über Wissenschaft an sich lernen. Davon soll hier die Rede sein.


Wissenschaft ist ein lernendes System sagt Prof. Dr. Klaus Mainzer in einem Vortrag zum Thema "Was ist Wissenschaft?" (VHS Wissen live, Mediathek, Vortrag vom 9.2.2021)

In ihrer Essay Sammlung „Putting Philosophy to Work“ geht auch Susan Haack der Frage nach was Wissenschaft ist. Sie rollt es etwas anders auf, indem sie einen Schritt zurücktritt. Zunächst einmal stellt sie fest, dass Wissenschaft eine Art und Weise der empirischen Untersuchung (empirical inquiry) ist, und zwar neben anderen Arten, wie geschichtliche, literarische, juristische oder auch journalistische Untersuchungen. Alle zusammen untersuchen einen oder mehrere Aspekte der einen realen Welt mit je verschiedenen Fragestellungen und Zielen. Susan Haack stellt sich dabei das Ganze wie ein riesiges Kreuzworträtsel vor, an dessen Lösung eben viele verschiedene Akteure beteiligt sind.

In einem dieser Essays (Fallibilism and Faith, Naturalism and the Supernatural, Science and Religion / Fallibilismus* und Glaube, Naturalismus und das Übernatürliche, Wissenschaft und Religion) grenzt sie Wissenschaft ab von Religion. Sie schreibt, dass Wissenschaft ein Verbund von Arten der Untersuchung natürlicher und sozialer Phänomene ist, der sich von anderen Arten der Untersuchung, wie z. B. der Geschichts- oder Literaturwissenschaft, in erster Linie durch die Fragen innerhalb ihrer jeweiligen Geltungsbereiche unterscheidet. Sehr wichtig ist ihr, dass es hierbei NICHT um eine Gesamtheit von Überzeugungen (body of belief) geht.

*Wikipedia schreibt: Der Fallibilismus (vom mittellateinischen fallibilis „fehlbar“) ist eine erkenntnistheoretische Position, nach der es keine absolute Gewissheit geben kann und sich Irrtümer niemals ausschließen lassen. Eine Strategie der Begründung oder Rechtfertigung mit dem obersten Ziel, eine Letztbegründung zu geben, kann niemals zum Erfolg führen. Daher verbleibt nur, Überzeugungen, Meinungen oder Hypothesen immer wieder auf Irrtümer hin zu überprüfen und nach Möglichkeit durch bessere zu ersetzen (siehe Falsifikationismus).

Bei wissenschaftlichen Untersuchungen, so Susan Haack, geht es wie bei alltäglichen Untersuchungen darum, eine Vermutung aufzustellen, um ein rätselhaftes Ereignis oder Phänomen zu erklären. Man bedenkt die Konsequenzen, wenn diese Vermutung wahr ist. Man prüft, wie gut sie den bereits vorhandenen Beweisen und allen weiteren Beweisen standhält, die man finden kann. Dann entscheidet man nach eigenem Ermessen, ob man sie akzeptiert, abändert, fallen lässt und neu beginnt - oder wartet, bis weitere Beweise verfügbar sind.

Weiterhin denkt Haack, gibt es keine Art der Schlussfolgerung oder Untersuchungsverfahren, das von allen Wissenschaftlern und nur von Wissenschaftlern verwendet wird. Im Laufe der Jahrhunderte jedoch haben die Wissenschaften eine ganze Reihe von "Hilfsmitteln" für die Untersuchung entwickelt, vom Mikroskop über das Teleskop bis hin zum Fragebogen, von der Zahlenkunde bis hin zur Infinitesimalrechnung und zum Computer. All dies erweitert die menschlichen Sinne und verbessert die menschliche Denkfähigkeit.

Auch hier sehen wir, wie schon bei Philosophie, dass sich Wissenschaft an die alltägliche Untersuchung von Vorgängen anschließt und sich wie jede empirische Untersuchung auf Erfahrung (experience) und Vernunft bzw. Argumentation (reasoning) stützt. So wie Philosophie mit dem gesunden Menschenverstand beginnt, beginnt Wissenschaft mit der alltäglichen Neugier und alltäglichen Untersuchungen.

Haack führt zwei Zitate an, die dies verdeutlichen:
Thomas Huxley:
"Der Mann der Wissenschaft ... verwendet mit peinlicher Genauigkeit die Methoden, die wir alle gewohnheitsmäßig und in jeder Minute nachlässig anwenden."
Albert Einstein: "Wissenschaft ist nichts anderes als eine Verfeinerung unseres Alltagsdenkens"

Auch die Forschung von Deanna Kuhn (Education for Thinking, siehe Bildung/Education) zeigt diese Zusammenhänge von Wissenschaft und Alltagsdenken auf.

„Evidence“ - Beweise sind wesentlich für Wissenschaft. Haack schreibt: Die Beweise für eine wissenschaftliche Behauptung oder Theorie sind wie die Beweise für die gewöhnlichsten empirischen Behauptungen - nur, ... mehr. Beweise in der Wissenschaft sind ein hochkomplexes Geflecht von Beobachtungsdaten und Hintergrundüberzeugungen, die wie die verzweigten Hinweise und Kreuzungspunkte eines Kreuzworträtsels zusammenwirken. Die Stärke diese Geflechts hängt davon ab, wie fest es in den sinnlichen Interaktionen mit der Welt verankert ist - wie breit in der zu erklärenden Reichweite, wie spezifisch in den zu erklärenden Details, wie streng in der zu erklärenden Integration.

Diese hochkomplexe Geflecht (the mesh structure of science) ist für den Laien dann oft nicht als solches auf Anhieb erkennbar, worin wohl die Schwierigkeit besteht wissenschaftliche Erkenntnisse, so vorläufig sie auch sind, anzuerkennen als das Wissen, auf dem unsere Technologie beruht.

Für unsere Zwecke interessant ist Susan Haacks folgende Unterscheidung:

Naturwissenschaften suchen nach Erklärungen für natürliche Phänomene.

Sozialwissenschaften suchen nach Erklärungen für soziale Phänomene.

In den Naturwissenschaften (wie auch in der Kochkunst oder der Automechanik) werden Erklärungen für physikalische Ereignisse, Kräfte und Gesetze gesucht.

Sozialwissenschaften (wie auch in der Geschichte oder der Detektivarbeit) suchen nach Erklärungen für Überzeugungen, Ziele usw. der Menschen und die Handlungen, die sie veranlassen.

In Abgrenzung zu Religion sieht Haack sowohl die Sozial- als auch die Naturwissenschaften in einem wichtigen Sinne "naturalistisch": Sie stützen sich weder auf angebliche Erklärungen, die an die Absichten und Handlungen übernatürlicher Wesen appellieren, noch auf die angeblichen Beweise religiöser Erfahrungen oder heiliger Texte.

Das Ziel wissenschaftlicher Forschung ist es, wahre Antworten auf die Fragen zu finden, die in ihren Bereich fallen. In ihrer beruflichen Eigenschaft akzeptieren Wissenschaftler viele Behauptungen als wahr, einige von ihnen sehr zuversichtlich und fest, und nicht wenige ziemlich dogmatisch; aber zu jeder Zeit gibt es viele neue Spekulationen, die noch nicht getestet wurden, viele strittige Fragen und viele konkurrierende Theorien und Theoriefragmente. Die meisten wissenschaftlichen Vermutungen werden früher oder später verworfen, wenn die Beweise gegen sie sprechen. Die Wissenschaft ist fehlbar (fallible), und nichts ist prinzipiell jenseits der Möglichkeit einer Revision, sollten neue Beweise dies erfordern.

In Bezug auf Big History bedeutet das, es kann immer nur der gegenwärtige Stand der Wissenschaft berücksichtigt werden und die Erzählung wird stark vereinfacht sein. Man kann daher nicht ohne weiteres von der Big History Erzählung auf die Einzeldisziplinien zurück schließen. Jedoch wird man, denke ich, Ergebnisse der Einzeldisziplinen mit dem Wissen von Big History im Hintergrund besser verstehen.

Wissenschaft, so könnte man nun ergänzen, ist ein systematischer und methodischer kollektiver Lernprozess.

Floris Cohen, ein niederländischer Professor für vergleichende Wissenschaftsgeschichte, erstellte eine große Studie zum Thema: How modern science came into the world. Diese wurde praktischerweise zusammengefasst in einem auch für interessierte Laien gut lesbaren Buch:  Die zweite Erschaffung der Welt - Wie moderne Naturwissenschaft entstand.


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