Big History im  Kontext

Ian Heskeths Buch „A History of Big History“ macht deutlich, dass Big History eine Form der groß angelegten Geschichtsschreibung neben anderen ist. Es stellt sich daher immer auch die Frage, wie erzählt man Big History. In einem Review-Artikel von Wolf Schaefer zu David Christians Maps of Time mit dem Titel „ Big History, the Whole Story, and Nothing Less?“ (Big History, nichts weniger als die ganze Geschichte?) stellt sich Schaefer diese Frage und verweist auf Carl Friedrich von Weizsäcker und dessen Vorlesung „Die Geschichte der Natur“ und den epistemologischen (erkenntnistheoretischen) Zirkel aus Fakten und Wissen.

Schaefer schreibt: "Als Student hatte ich in einer Vorlesungsreihe zur Naturgeschichte gelernt, dass der Mensch aus der Natur hervorgegangen ist (Evolutionsbogen) und die Naturgeschichte aus dem Menschen (Geistesbogen). Beeindruckt hat mich das Argument, dass, da der Mensch ein Produkt der Natur ist, die Naturwissenschaft eine Voraussetzung für die Geisteswissenschaft ist und, da das Verständnis der Natur eine menschliche Schöpfung ist, die Geisteswissenschaften wiederum eine Voraussetzung für die Naturwissenschaften sind. Das Durchlaufen beider Hemisphären dieses erkenntnistheoretischen Zirkels* war daher eine Voraussetzung für das Verständnis des modernen (naturwissenschaftlichen) Wissens und der Geschichte...
Der wiederholte Wechsel von Fakten zu Wissen und von Wissen zu Fakten offenbart auch vermenschlichte Fakten und naturalisiertes Wissen."
(Übersetzung mit DeepL)


Das machte mich neugierig und ich besorgte mir von Weizsäckers Buch im Antiquariat. Schon das Inhaltsverzeichnis und die angehängten Zeittafeln vermitteln ein Gefühl von Big History. Die Vorlesungsreihe wurde 1946 in Göttingen gehalten, 1948 erstmals publiziert, 1954 in zweiter Auflage, wobei der naturwissenschaftliche Teil überarbeitet und der philosophische Teil beibehalten wurde. 2006 wurde es erneut veröffentlicht vom Hirzel Verlag mit einem Geleitwort von Harald Lesch.

Nach der Einleitung geht es um den Rückgang in die Geschichte der Erde, die räumliche Struktur des Kosmos, die zeitliche Struktur des Kosmos, Unendlichkeit, Sternsysteme, Sterne, die Erde, das Leben, die Seele, der Mensch: äußere Geschichte, und der Mensch: innere Geschichte. C.F. v. Weizsäcker war zunächst Physiker und wandte sich später der Philosophie zu. Im Kapitel über die Seele geht es um Geist, Psyche und Bewusstsein. Die äußere Geschichte des Menschen meint den Menschen als Naturwesen und die innere Geschichte, den Menschen als Kulturwesen.
Da ich in der Big History Literatur noch keinen Verweis auf C.F. v. Weizsäcker entdeckt habe, seine Vorlesungsreihe aber eine sehr ähnliche Zielsetzung hat, möchte ich hier kurz darüber schreiben, vor allem eben auch im Hinblick auf die Frage, wie erzählt man nun diese Geschichte von Allem nach dem Urknall.

Zunächst einmal stellt von Weizsäcker fest, dass er sich ein Thema vorgenommen hat, das umfassender ist als im akademischen Lehrbetrieb üblich, denn kein Wissenschaftler kann alle Fachgebiete beherrschen, die mit einer solchen Fragestellung berührt sind. Dem muss man hinzufügen, dass sich die Lage seit 1946 für den einzelnen Wissenschaftler wohl eher noch verschlechtert hat, aufgrund der weiterhin zunehmenden Spezialisierung, die David Christian 1989 im Bereich der Geschichtswissenschaft beklagt und dem Abhilfe schaffen will. Von Weizsäcker fragt aber auch, worauf das Bedürfnis nach solchen umfassenden Fragestellungen beruht. Seine Antwort lautet „eine spezialisierte Wissenschaft ist nicht imstande uns ein Weltbild zu geben, das uns in der Verworrenheit unseres Daseins einen Halt böte“, daher suche man die Synthese, den großen Überblick. Es gibt also eine große Ähnlichkeit in der Motivation für C.F. von Weizsäcker und David Christian.

Von Weizsäcker möchte nun als nächstes das Berechtigte in der Selbstbeschränkung der Einzelfächer begreifen. Denn diese beruht nicht auf Zufall oder der Laune der Forscher, sondern liegt im Charakter der Wissenschaft begründet. Er argumentiert, da es unmöglich sei, alles zu wissen, liegt in der wissenschaftlichen Haltung stets eine Resignation, ein Verzicht. Dieser Verzicht, weil man wissen und nicht glauben möchte, ist für ihn der Ursprung der Spezialisierung.

Nun geht es nicht nur um Spezialisierung im allgemeinen, sondern auch um die Spaltung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, auf die sich sowohl C.F. von Weizsäcker als auch David Christian beziehen. Christians erklärtes Ziel ist es, mithilfe von Big History, diese Spaltung zu überwinden. Von Weizsäcker liefert weitere Hintergründe: Naturwissenschaft erforscht mit den Mitteln des instrumentellen Denkens die materielle Welt um uns herum. Es geht um die Wirkung, die man mit gegebenen Mitteln erzielen kann. Geisteswisschaft dagegen erforscht den Menschen und nimmt ihn dabei als das wahr, als was er sich selbst erkennt: als Seele, Bewusstsein, Geist. Für von Weizsäcker ist die Trennung weniger eine der Gebiete, die sich teilweise überlappen, es ist mehr eine Trennung der Methoden und Denkweisen, die sich selten verstehen. Naturwissenschaft beruht auf der scharfen Scheidung des erkennenden Subjekts von erkannten Objekt. Geisteswissenschaft hat dagegen die Aufgabe, das Subjekt in seiner Subjektivität zum Objekt der Erkenntnis zu machen. Dennoch sieht C.F.v. Weizsäcker einen objektiven Zusammenhang beider Wissenschaftsgruppen hinter dem gegenseitigen Missverständnis, der gesehen und verwirklicht werden muss. Er verdeutlicht das mit einem Gleichnis, indem die Naturwissenschaft und die Geisteswissenschaften ihm als 2 Halbkreise erscheinen, die man so aneinanderfügen müsse, dass sie einen Vollkreis ergeben, den man anschließend mehrmals durchlaufen müsse. Wobei wir wieder bei der Beschreibung von Wolf Schaefer angelangt sind.

Einerseits ist der Mensch ein Naturwesen, aus der Natur hervorgegangen, unterliegt der Mensch den Naturgesetzen. =>> Die Natur ist älter als der Mensch. In diesem Sinne ist Naturwissenschaft Voraussetzung für Geisteswissenschaft.
Andererseits ist Naturwissenschaft von Menschen für Menschen gemacht, unterliegt den Bedingungen aller geistigen und materiellen Produktionen des Menschen. =>> Der Mensch ist älter als die Naturwissenschaft. Der Mensch war nötig, damit es Begriffe von der Natur geben konnte. Naturwissenschaft ist daher eine spezielle Produktion des menschlichen Geistes. In diesem Sinne ist ist Geisteswissenschaft eine Voraussetzung der Naturwissenschaft.

Es ist also möglich und notwendig, Naturwissenschaft als einen Teil des menschlichen Geisteslebens zu verstehen. C.F. v. Weizsäcker beobachtet jedoch, dass man in beiden Wissenschaftsgruppen im allgemeinen nur die eine Seite der Abhängigkeit sieht. Aber hier ginge es um die Abhängigkeiten wirklicher Dinge voneinander. Begriffliches Denken (Sprache) hat die ursprüngliche Einheit von Mensch und Natur in den Gegensatz von Subjekt und Objekt gelegt. C.F.v. Weizsäcker hält es daher für unabdingbar, „die Bedingtheit des Menschen durch die Natur und der Begriffe von der Natur durch den Menschen klar und im Einzelnen zu verstehen“. Dazu müsse man den Kreis mehrmals durchlaufen.

Im weiteren geht er in seiner Vorlesung ganz explizit nur auf einen der beiden Halbkreise ein, nämlich den Teil von der Natur und der Herkunft des Menschen aus ihr. Als einzelner Wissenschaftler muss er sich beschränken, es gelingt ihm nicht, den Vollkreis zu durchlaufen. Er gibt seinen Zuhörern lediglich diesen Gedanken mit auf den Weg.
Und hier sehe ich große Ähnlichkeit mit dem, was wir in Big History auch tun. Wir betrachten den Menschen überwiegend als Naturwesen, ein bisschen auch als Kulturwesen. Aber ich sehe nicht, dass wir versuchen, diese gegenseitige Bedingtheit zu verstehen. Im wesentlichen stützen sich die Big History Forscher auf eine Epistemologie, die in den Naturwissenschaften vorherrscht.

Das ist ein Problem, das auch Tobias Kriegleder in seiner Diplomarbeit (2016, Magister der Philosophie, Universität Wien) „Was heißt Big History und zu welchem Ende studiert man Big History?“ sieht.

Im Abschnitt 2.5 „A Grand Unified Story?“ Big History und der Versuch eine gesamthistorische Disziplin zu schaffen, fragt er im Unterabschnitt 2.5.1 Die Vereinigung von Geschichte und Naturwissenschaft:
„Doch kann es tatsächlich gelingen eine neue Wissenschaftsdiziplin zu schaffen, die die verschiedenen epistemologischen Barrieren überwinden kann. Denn oftmals wird unter dem Deckmantel der Interdisziplinarität bloß der eigene erkenntnistheoretische Zugang auf alle anderen Bereiche angewandt.“

„Ist der Big History-Zugang nun wirklich eine Kollaboration zwischen der Geschichtswissenschaft und den Naturwissenschaften oder stellt er lediglich den Siegeszug des naturwissenschaftlichen Paradigmas über die Geschichte dar? [David] Christian sieht in der Synthese die Möglichkeit einer „new form of universal history that is global in its practice and scientific in its spirit and methods“.“

Kriegleder kommt zum Schluss, dass Big History enormes Potential hat, um einerseits geschichtsphilosophische und metaphysische Fragestellungen aus einer neuen Perspektive zu beleuchten, aber andererseits auch um ein globales Geschichtsnarrativ des 21. Jahrhundert zu schaffen, das die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen der Menschheit im Kontext der „großen Geschichte“ besser verständlich machen kann.

Er sieht Big History im Spannungsfeld zwischen Geschichtswissenschaften und Naturwissenschaften, jedoch in seiner gegenwärtigen Form nicht geeignet, die Spaltung zwischen Natur und Geisteswissenschaften zu überwinden, da hierfür die epistemologische Grundlage und auch die Darstellungen immer noch zu stark von dem positivistisch-materialistischen Weltbild der Naturwissenschaften geprägt sind. Big History müsste die „zwei Gesichter der Wirklichkeit“, der Mensch als biologisches und kulturelles Wesen, zusammenbringen, und viel mehr aus der Ideengeschichte einbringen.

Mir scheint nun, dass sich hier die Ideen von C.F.v. Weizsäcker anbieten würden. Es sollte aber auch klar geworden sein, dass Big History ein Gemeinschaftsprojekt sein muss, will man das Ziel Geschichte als Ganzes zu betrachten oder den großen Überblick zu schaffen, wirklich erreichen. Ein einzelner Big Historian wird sehr stark auf populärwissenschaftliche Literatur zurückgreifen müssen, will er oder sie die Fülle der Spezialgebiete auch nur annähernd bewältigen.

Der erkenntnistheoretische Zirkel berücksichtigt zweierlei, unsere natürlich-materielle Situation und unsere erkenntnistheoretische Situation. Insofern Big History den Anspruch erhebt, eine Ursprungsgeschichte von Allem nach dem Urknall zu sein, kann die erkenntnistheoretische Situation nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben.