Warum schicken wir unsere Kinder zur Schule?

Bildung

Was gilt als gute Allgemeinbildung? Über welches Wissen, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten sollte ein junger Mensch nach dem Abschluss der weiterführenden Schule verfügen, ob das nun ein Gymnasium ist, das an die Universität führt oder eine Regelschule (in Thüringen), die zu einer Berufsausbildung führt. Kann Big History hier einen Beitrag leisten?

Deanna Kuhn, Education for Thinking (Englisch), beginnt ihr Buch gleichen Titels mit eben dieser Frage: Warum schicken wir unsere Kinder zur Schule?

In ihrem Forschungsprojekt untersucht sie primär die Entwicklung von Denk- und Lernfähigkeiten als ein Ziel von Bildung. Denn am Ende der Schul- und Ausbildungszeit soll der Mensch nicht nur allgemeines Weltwissen und spezielles Fachwissen haben, sondern auch die Fähigkeit im Leben zurecht zu kommen. Das wiederum bedeutet in einem demokratischen Staat auch, mündige, also informierte und reflektierte, Bürger, die mit ihrem Votum schließlich die Weichen für die Politik stellen, die wiederum darüber bestimmt, wie die Gesellschaft als Ganzes leben will, was wiederum den Rahmen für die individuelle Entfaltung des einzelnen Menschen absteckt.

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Wenn man sich in Deutschland mit dem Thema Bildung befasst, stößt man unweigerlich auf den Namen Humboldt und das Humboldtsche Bildungsideal.

Der Wikipediaeintrag verweist auf P. Berglar (1970): Wilhelm von Humboldt, S. 87 und zitiert Wilhelm von Humboldt’s Brief an den Preußischen König:

„Es gibt schlechterdings gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Gesinnungen und des Charakters, die keinem fehlen darf. Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne Hinsicht auf seinen besonderen Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist. Gibt ihm der Schulunterricht, was hierfür erforderlich ist, so erwirbt er die besondere Fähigkeit seines Berufs nachher so leicht und behält immer die Freiheit, wie im Leben so oft geschieht, von einem zum andern überzugehen.“ Link

Das Resümee daraus lautet, dass für Humboldt nicht nur die Ausbildung zu einem Beruf wichtig war, sondern auch die Bildung im Sinne des Humanismus. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft braucht es vor dem für die jeweilige Arbeit notwendigen Fachwissen auch ein gemeinsames Allgemeinwissen, das wesentlich dazu beiträgt, die Gesellschaft zusammenzuhalten.

Bei meiner Recherche zum Thema Humboldtsches Bildungsideal stieß ich auf einen Text von 
Jürgen Hofmann anlässlich der 225. Veranstaltung der Humboldt-Gesellschaft im Jahr 2010 mit dem Thema: Welche Bedeutung hat das Humboldtsche Erbe für unsere Zeit? Hofmann stellt fest, dass in Humboldts Bildungsbegriff sowohl „Wissen“ als auch „Herzensbildung“ enthalten sei. Beides sei notwendig, um von einem gebildeten Menschen sprechen zu können, dennoch sei dies noch nicht hinreichend: „Man wird nicht gebildet, sondern man bildet sich.“ Ein bisschen konkreter würde ich sagen, man wird von anderen ausgebildet zu einem bestimmten Beruf, aber man erarbeitet sich selbst aktiv seine Bildung. Die (allgemeinbildende) Schule legt hierfür den Grundstein.

(Obwohl Wilhelm von Humboldt ja in erster Linie mit diesem Bildungsideal in Verbindung gebracht wird, möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass er sich überwiegend der Erforschung von Sprache gewidmet hat.)

Wilhelms (2 Jahre) jüngerer Bruder Alexander von Humboldt ist uns schon begegnet bei der Entstehung von Big History als Naturforscher, der die Wechselwirkungen zwischen den Dingen untersuchte und seine Erkenntnisse im Kosmos niederschrieb.

Von der Theorie zur Praxis

Soweit die theoretischen Überlegungen, werfen wir nun einen Blick in die Praxis. Hier habe ich mich genauer mit der Situation in Thüringen befasst, weil ich hier lebe und über meinen Sohn das Schulsystem erfahren habe. Ich selbst bin bis zur zehnten Klasse in der ehemaligen DDR zur Schule gegangen und habe Anfang der 1990er Jahre eine dreijährige Berufsausbildung mit Abitur gemacht.

Schaut man sich in der aktuellen Thüringer Schulordnung die Rahmenstundentafeln für Grundschule (Anlage 1), Gymnasium (Anlage 4) und gymnasiale Oberstufe (Anlage 13) an, dann ergibt sich folgendes Bild, das ich für mich in einer Tabelle zusammengefasst habe.



In der Grundschule vermittelt das Fach Heimat-und Sachkunde die Grundlagen für spätere Differenzierung in den Natur- und Gesellschaftswissenschaften.

In Klasse 5 und 6 vermittelt das Fach „Mensch Natur Technik“ den Einstieg in die Naturwissenschaften Biologie, Chemie und Physik.


Neben Deutsch und Mathematik als Kernfächer laufen Englisch als 1. Fremdsprache und Geschichte bis zur 12. Klasse durch.

Spätestens ab Klassenstufe 9 sind bilinguale Module vorzusehen.

In Klasse 9 + 10 muss jede Schule 3 Angebote für den Wahlpflichtbereich machen, aus dem dann eines ausgewählt wird.

In Klasse 11 + 12 gibt es die Möglichkeit für ein fächerübergreifendes Angebot.



In der Praxis hängt sehr viel vom vorhandenen Lehrpersonal ab. So gab es an der Schule meines Sohnes (Gymnasium) die Möglichkeit als Wahlpflichtbereich eine dritte Fremdsprache ODER Astrophysik (Naturwissenschaftlicher Bereich) ODER Darstellen und Gestalten (Musisch-Künstlerischer Bereich) zu wählen. Theoretisch wäre natürlich auch ein Angebot aus dem gesellschaftswissenschaftlichen Bereich oder ein fächerübergreifendes Angebot nach schulinternem Lehrplan möglich gewesen. In der Praxis konnte es jedoch an der Schule meines Sohnes nicht angeboten werden.

Die bilingualen Module schließlich erfordern entsprechende Fremdsprachenkenntnisse bei den Lehrern anderer Fächer, wie Natur- oder Gesellschaftswissenschaften.


Verbindung zu Big History

Erinnern wir uns noch mal daran wie Armando Viso mit einem Vergleich veranschaulicht, was Big History ist: „Wenn die Biologie um die Zusammenhänge zwischen lebenden Organismen verschiedener Arten erweitert wird, erscheint Ökologie; wenn die Geschichte ausgedehnt wird, um die Zusammenhänge mit und innerhalb der natürlichen Welt zu erfassen, erscheint Big History. So wie die Ökologie die Biologie nicht ausschließt, sondern erhellt, so konkurriert die Big History nicht mit der Geschichte, sondern bereichert sie.“ (eigene Übersetzung) siehe Überblick

Big History nun ist auf einzigartige Weise fächerübergreifend, indem es die Gesellschaftswissenschaften mit den Naturwissenschaften verbindet und in diesem Kontext die Fähigkeiten des kritischen und historischen Denkens trainiert. Der Aspekt Big History als moderne Ursprungsgeschichte kann zudem im Fach Ethik/Religion aufgegriffen werden (eins von beiden muss belegt werden während der gesamten Schulzeit) und ebenso im musisch-künstlerischen Bereich.

Zwei sehr unterschiedliche Beispiele für letzteres liefern:

Philip Day (für Freunde des Rap) mit seiner Rap History of the World

Sam Guarnaccia (für Freunde von klassischer Musik) hat das „Emergent Universe Oratorio“ komponiert, welches im Abendprogramm der Konferenz der Internationalen Big History Association 2018 auf dem Campus der Villanova Universität (Philadelphia/USA) vom Main Line Symphony Orchestra aufgeführt und aufgezeichnet wurde. Es ist auf Youtube zu sehen
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Ein paar abschließende Gedanken zu Bildung

Da Big History als Perspektive noch relativ neu ist, bietet es viel Raum zum Experimentieren auf der Suche nach Antworten auf die Frage, was ist heute in unserer Zeit mit ihren spezifischen Herausforderungen eine gute Allgemeinbildung. Denn eines darf auch nicht unerwähnt bleiben: die Menge an verfügbaren und wichtigem Fachwissen wächst stetig an. Der Mensch kann aber nur eine gewisse Menge davon während seiner Schulzeit aufnehmen. Es muss immer stärker ausgewählt werden, was aus der wachsenden Menge an Stoff realistisch vermittelt werden kann. Alle Fächer (abgesehen von einer toten Sprache wie Latein), werden von Jahr zu Jahr umfangreicher, denn Leben entwickelt sich weiter. Big History veranschaulicht das auf eine lebendige und interessante Weise, und es macht auch deutlich, wie sehr wir Menschen aufeinander und die Natur angewiesen sind.

So kommen die Beiträge der Humboldt-Brüder zur Bildung und das unabdingbare kritische Denken in Big History zusammen. Auf der nächsten Seite geht es dann detaillierter um Big History in der Schulbildung.