Besondere Struktur wissenschaftlicher Ursprungsdiskurse.

Pascal Nouvel verortet Big History unter den möglichen Diskursen über Ursprünge. Dabei geht er auch auf die besondere Struktur der wissenschaftlichen Ursprungsdiskurse ein.

In der Wissenschaft beobachtet man, interpretiert die Beobachtungen und stellt eine Hypothese/Theorie auf, die man anhand von Experimenten oder Modellen überprüft. Siehe hier.

In der Präsentation der Theorie selbst werden die Gründe für die Theorie angegeben.
Nouvel sieht dies als
 großen Unterschied zu mythischen Diskursen über den Ursprung des Universums (z.B. wie in der Genesis oder der Theogonie), wo wir zwar erfahren, was bezüglich des Ursprungs des Universums geglaubt wird, aber nicht warum man dies glaubt.

Selbst wenn sich bei wissenschaftlichen Diskursen über den Ursprung (des Universums, des Sonnensystems, der Erde, des Lebens, des Menschen etc.) die Interpretation ändert, so müssen dennoch die Beobachtungen erklärt werden. Dies ist eine Stärke wissenschaftlicher Ursprungsdiskurse gegenüber mythischen.

Eine Schwäche wissenschaftlicher Ursprungsdiskurse sieht Nouvel darin, dass es zu jedem Ursprung eben nicht nur eine Hypthothese/Theorie gibt, sondern mehrere miteinander konkurrierende um die beste* Erklärung für den jeweiligen Ursprung. *Darüber, was als beste Erklärung gilt, gibt es wiederum einen Diskurs.

Nouvel führt aus, dass diese Situation weder zufällig noch vorläufig ist. Es ist eben nicht so, dass wir bloß abwarten müssen bis der wissenschaftliche Fortschritt sich auf eine Theorie pro Ursprungsereignis einigen wird. Es ist durchaus möglich, dass man die eine oder andere Hypothese in der Zukunft verwirft, aber wir können sicher sein, dass es auch in der Zukunft wieder mehrere konkurrierende Hypothesen geben wird. Das ergibt sich einfach aus der netzartigen Struktur wissenschaftlicher Erkenntnisse, die aus Gegenkontrollen zwischen Beobachtungen/Daten und Vorhersagen besteht.
Wir haben es daher stets mit mehreren wissenschaftlichen Darstellungen zu tun, weil dies in der Natur wissenschaftlicher Untersuchungen so angelegt ist.
Der Charakter wissenschaftlicher Ursprungsdiskurse ist also hypothetischer Natur.

Nouvels Schlussfolgerung daraus ist: Eine wissenschaftliche Erzählung über die Ursprünge kann in der Tat verfasst werden, aber da sie aus einer Reihe von Hypothesen für jede in der Erzählung berücksichtigte Emergenz (Universum, Sterne, Sonnensystem, Erde, Leben, Mensch, etc.) besteht, wird sie zu einer schwindelerregenden Anzahl möglicher Kombinationen führen und sich nicht in einer einzigen kohärenten Erzählung stabilisieren, wie es das Versprechen von Big History ist.

Anders gesagt: Wenn man sich also strikt an die Wissenschaft hält, führt das nicht zu der Art von Ursprungserzählung, wie sie die Vertreter der Big History zu verfassen versuchen.
Das Problem der vielen Hypothesen, die man nicht alle erfassen kann, führt daher unweigerlich zu einem Wunsch nach Vereinfachung. In Reaktion auf diesen Wunsch nach Vereinfachung, wird die moderne Ursprungserzählung letztlich den alten Erwartungen an den Mythos anpasst.

Durch die Auswahl eines einzigen Szenarios aus allen möglichen Erzählsträngen behält Big History die Idee einer schnellen Darstellung der wichtigsten Ereignisse bei, die zur Konstruktion der uns bekannten Realität beigetragen haben. Big History entspringt aber auch der erkenntnistheoretischen Strenge, die notwendig ist, um alle anderen möglichen Hypothesen darzustellen, die für den einen Erzählstrang hätten gewählt werden können.
Die Szenarien können sich im Laufe der Zeit ändern, aber eines bleibt gleich: Es gibt immer mehrere mögliche Szenarien für ein ursprüngliches Ereignis.

Und so sortiert Nouvel Big History in zwei Kategorien ein, halb wissenschaftlich, halb mythisch. Nouvel argumentiert: Wenn man versucht, ein Narrativ von Ursprungsereignissen - immer im Sinne von Emergenz verstanden - zu verfassen, ohne jedoch genau anzugeben, welches Prinzip die Wahl des einen Szenarios gegenüber einem anderen bestimmt, produziert man eine Geschichte, die zwar auf Elementen aus der Wissenschaft beruht, aber dennoch nur den Anschein von Wissenschaft selbst hat.

Das konnte ich sehr gut nachvollziehen, weil mir beim Selbststudium sehr schnell auffiel, dass es z.B. zu Ursprung und Entwicklung des Lebens (also einer Emergenz innerhalb der Big History Erzählung) viele verschiedene populärwissenschaftliche Darstellungen gibt. Schließlich fand ich einen Übersichtsartikel zum Thema: Contrasting Theorien of Life: Historical Context, Current Theories. In search of an ideal theory / Verschiedene Theorien des Lebens: Historischer Kontext, aktuelle Theorien. Auf der Suche nach einer idealen Theorie von Athen Cornish-Bowden, Maria Luz Cardenas. Wobei Thema des Artikels weniger der Ursprung des Lebens war als die Frage, was Leben ist. Beides ist jedoch miteinander verbunden, und zur Illustration des Sachverhaltes genügt es.

Nun sollte uns diese Schwäche wissenschaftlicher Ursprungsdiskurse jedoch nicht davon abhalten, eine wissenschaftlich fundierte Ursprungsgeschichte zu erzählen.


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