Eine Big History Theorie

In der kürzesten Definition von Big History handelt es sich um einen Überblick der Zunahme und des Zerfalls von Komplexität in all seinen Formen und Erscheinungen seit Beginn des Universums. Als neue Wissenschaftsdisziplin braucht es dafür natürlich eine theoretische Grundlage.

Fred Spier schlägt nun vor, die Energieflüsse durch Materie zu betrachten, die notwendig sind, damit Komplexität entsteht und aufrecht erhalten wird, wobei bestimmte günstige Bedingungen herrschen müssen, Idealbedingungen sozusagen. Er baut seine allgemeine Theorie von Big History auf dem Werk des Astrophysikers Eric Chaisson auf - Cosmic Evolution: The Rise of Complexity in Nature - Dt. etwa: kosmische Evolution: die Zunahme von Komplexität in der Natur. Was für mich ein schönes Beispiel für die Arbeit im Wissenschaftsbetrieb ist.

Im folgenden werden die Hauptaspekte dieser Theorie umrissen, für eine ausführlichere Betrachtung sei empfohlen die Werke von Fred Spier: Big History and the Future of Humanity und Eric Chaisson: Cosmic Evolution zu lesen. Ja, ich weiß, dafür braucht man schon sehr gute Englischkenntnisse. Der Leser kann sich natürlich auch gerne an deutsche Verlage wenden und darum bitten, diese Werke auf Deutsch herauszugeben :-))

 
Die Theorie basiert auf den Begriffen
Komplexität, Energie und Materie. Alle Formen von Komplexität in Big History (d.h. jene, die wir kennen) bestehen aus Materie und sind durch Energieflüsse entstanden. Wem das zu abstrakt ist, der möge sich zunächst mit dem Überblick und der Erzählung begnügen, jedoch im Hinterkopf behalten, dass es noch mehr zu Big History zu sagen gibt.

Beispiel: unser Sonnensystem ist entstanden im Ergebnis des Energieflusses, der von einem explodierenden Stern am Ende seines Sternenlebens freigesetzt wurde. Durch die Explosion wurde eine große Staubwolke zusammengepresst, die sich nachfolgend unter dem Einfluss der Schwerkraft zusammenzog und unser Sonnensystem bildete.

Beispiel: die Entstehung des Lebens muss ebenfalls eine Energiequelle benötigt haben, wie etwa die von Unterwasservulkanen freigesetzte Energie.

Beispiel: die von Menschen geschaffene Komplexität in Form von Technologie kommt ebensowenig ohne Energieflüsse aus.

Ist einmal eine Form von Komplexität entstanden, muss sie ihre Struktur aufrecht erhalten. Einige Formen von Komplexität, wie Gesteinsbrocken, die durchs All fliegen oder die allgemeine Form des Sonnensystems benötigen keine weitere Energie, um dort zu bleiben, wie sie sind (zumindest für sehr lange Zeit gemessen an der menschlichen Lebensspanne). Andere Formen von Komplexität, wie alle Lebensformen einschließlich des Menschen, benötigen eine ständige Zufuhr von Energie aus der Umwelt (und den Abfluss von Abfallprodukten), um ihre Komplexität aufrechtzuerhalten.

 
Einige Beispiele:

Während ihrer Lebenszeit erhalten Sterne ihre Komplexität durch einen Prozess der Selbstregulation aufrecht, der auf dem Wechselspiel zwischen der nach innen gerichteten Kraft der Gravitation/Schwerkraft und dem nach außen gerichteten Druck aufgrund der Kernfusion in seinem Inneren beruht. Solange Sternen nicht der nukleare Brennstoff ausgeht, erhalten sie ihre Komplexität durch diese negative Rückkopplungsschleife. Ein Sternenleben beginnt mit einer bestimmten Menge an nuklearem Brennstoff, zumeist Wasserstoff, der nicht erneuert wird. Somit kann man sehr einfach vorhersagen, wie lange so ein Sternenleben andauern kann, zumal Sterne kaum Einflüssen von Ereignissen anderswo in der Galaxie ausgesetzt sind.

Bei unserer Erde wird es schon komplizierter. Im Vergleich zur Sonne hat sie eine ziemlich komplexe Oberfläche, die das Ergebnis des Wechselspiels von Plattentektonik, Erosion und Leben ist. Zwei Hauptenergieflüsse spielen dabei eine Rolle, zum einen Energie von außen in Form der Sonnenstrahlung und zum anderen Energie von innen in Form von Kernspaltungsprozessen.

Sterne und Planeten ohne Leben können sich nur aufgrund von äußeren Einflüssen verändern, sie können sich an diese Einflüsse aber nicht anpassen, weil es keine notwendigen Rückkopplungsprozesse gibt, die es ihnen ermöglichen würden, diese Veränderungen in ihre Struktur zu integrieren. Das nennt man nicht-adaptives Regulationssystem, oder in anderen Worten: Sterne und Planeten ohne Leben können nicht aus ihren Erfahrungen lernen.

Leben dagegen ist ein komplexes adaptives Regulationssystem. Sprich: Lebewesen lernen aus ihren Erfahrungen. (Fred Spier verwendet den englischen Begriff „regime“ für Regulationssystem - siehe dazu die Anmerkung des Übersetzers in Fred Spier: Big History - Was die Geschichte im Innersten zusammenhält)

Damit Lebensformen ihre Komplexität aufrecht erhalten können, müssen sie aus ihrer Umwelt Materie und Energie entnehmen - wir Menschen müssen mindestens essen und trinken, um am Leben zu bleiben. Gleichzeitig sind Lebensformen auch in der Lage zu lernen und sich anzupassen dank einer großen Zahl von Rückkopplungsschleifen auf der Basis von Informationen. Diese Rückkopplungsschleifen erlauben Lebewesen nicht nur zu lernen und sich anzupassen, sie verändern damit auch ihre Umwelt zu ihrem eigenen Nutzen.


Nun braucht es neben Energie und Materie und den beschriebenen Energieflüssen durch Materie aber noch etwas, nämlich die Bedingungen unter denen Komplexität entsteht und aufrecht erhalten wird. Denn alle Formen von Komplexität entstehen und existieren nur unter bestimmten Bedingungen, die „gerade richtig“ sein müssen. Verändern sich diese Bedingungen, dann zerfällt die jeweilige Form von Komplexität wieder. Fred Spier nennt diese Bedingungen das Goldlöckchen Prinzip nach der Geschichte von Goldlöckchen und den drei Bären. 



Idealbedingungen (oder Goldlöckchen-Bedingungen, engl. Goldilocks conditions) existieren niemals für sich alleine. Sie sind stets abhängig von der betrachteten Form von Komplexität.

Beispiel: Menschen können nur innerhalb eines bestimmten Temperaturbereiches leben, brauchen genügend Sauerstoff zum Atmen und einen ausreichenden Luftdruck sowie Nahrung und Wasser - und das sind nur die grundlegendsten physikalisch-chemischen Bedingungen.

Beispiel: Sterne existieren unter ganz anderen Idealbedingungen als Menschen. Sie benötigen riesige Mengen an dicht gepackten Wasserstoffatomen in ihrem Kern, während um sie herum kalter, leerer Raum sein muss. Wäre das nicht der Fall, würden sie in ihrer eigenen Hitze ersticken und explodieren. Im Inneren von Sternen muss auch gewaltiger von Schwerkraft verursachter Druck herrschen, damit der Prozess der Kernfusion in Gang kommt, durch den Wasserstoff in schwerere (und damit komplexere) Heliumkerne verwandelt und dabei Energie in Form von Strahlung freigesetzt wird. Diese Idealbedingungen für Sterne sind auf der Erde sehr schwer herzustellen. Daraus folgt, dass Kernfusion (noch) nicht zur Energieerzeugung genutzt werden kann.


Beispiel: Pflanzen, Tiere und Mikroorganismen haben daran mitgewirkt, Idealbedingungen zu schaffen unter denen sie den Wechselfällen des planetaren Lebens erfolgreich begegnen können. 

Beispiel: Der Mensch ist ein Meister darin, sich Idealbedingungen für seine Existenz zu schaffen. Diese menschengemachten Idealbedingungen können sowohl sozialen wie auch materiellen Charakter haben. Materielle Idealbedingungen sind u. a. Kleidung, Behausung, Transportmittel. Soziale Idealbedingungen sind z. B. Verkehrsregeln. Diese Verhaltens-Regeln wurden aufgestellt, damit die Mitglieder unserer Spezies ihr Ziel auf sowohl effiziente als auch sichere Weise erreichen können während gleichzeitig die Komplexität aller Beteiligten aufrecht erhalten wird. In anderen Worten: schnell und sicher = unfallfrei ans Ziel kommen. Hält sich ein Verkehrsteilnehmer nicht an die Regeln, geschieht das meist, weil er schneller ans Ziel kommen will, was jedoch auf Kosten der Sicherheit geht.

Zusammenfassung:

Fred Spiers Big History Theorie besteht demnach darin, sich verändernde Idealbedingungen in Kombination mit den Energieflüssen durch Materie zu betrachten. Diese Kombination führt zur Zunahme und zum Zerfall aller Formen von Komplexität, von den größten Galaxienhaufen bis zu den kleinsten Partikeln.


Als Nächstes stellt sich die Frage, ob es möglich ist, Komplexitätsstufen zu definieren.
(Eine einfache Definition von Komplexität gibt es auf der Seite Erzählung -> zunehmende Komplexität)

Gegenwärtig werden 3 Hauptformen von Komplexität unterschieden:
physikalische, d.h. unbelebte Natur 
Leben = belebte Natur
Kultur (als Ergebnis kollektiven Lernens).

Wobei die Größenverhältnisse beachtlich sind. Was Materie betrifft, so hat die unbelebte Natur den weitaus größten Anteil.

Fred Spier stellt dazu folgenden Vergleich an:
Vergleicht man die gesamte Masse der Erde mit der durchschnittlichen Masse eines Autos (1000 kg), dann beträgt die gesamte Masse planetaren Lebens beträgt nur 17 Mikrogramm (= 17 Millionstel Gramm). Was ungefähr einem kleinen Splitter Lack auf dem Auto entspricht. Bei diesem Vergleich entspricht die gesamte Masse des Sonnensystems in etwa der Masse eines Supertankers.


All diese kosmische unbelebte Materie zeigt sich in verschiedenen Abstufungen von Komplexität, die von einzelnen Atomen bis hin zu ganzen Galaxien reicht, die sich aufgrund der fundamentalen Naturgesetze selbst organisiert.

Die zweite Stufe der Komplexität - Leben, d.h. die belebte Natur - ist im Vergleich zur unbelebten Natur zwar eher ein Randphänomen, jedoch weist sie eine größere Komplexität auf als die unbelebte Materie. Um diese größere Komplexität aufrecht erhalten zu können, organisiert sich belebte Materie mit Hilfe von Erbinformationen, die gewöhnlich in DNS-Molekülen gespeichert ist.

Die dritte Stufe der Komplexität - Kultur - besteht aus Informationen, die in menschlichen Nerven- und Gehirnzellen gespeichert ist sowie in menschlichen Aufzeichnungen auf verschiedensten Materialien von Steintafeln über Papier bis zu Siliziumchips.


Noch etwas Bemerkenswertes stellt Fred Spier fest: Hinsichtlich der Körpermasse macht unsere Spezies gegenwärtig nur etwa 0,0005 % der gesamten planetaren Biomasse aus. Wenn alles planetare Leben also nur ein Splitter Lack ist, dann sind alle heutigen Menschen nicht mehr als eine winzige Bakterienkolonie auf diesem Splitter. Dennoch haben die Menschen es geschafft einen beträchtlichen Teil der Biomasse der Erde, vielleicht 25-40 % zu kontrollieren.

Um zu verstehen, wie menschliche Gesellschaften funktionieren, genügt es nicht, nur auf ihre DNS, ihre molekularen Mechanismen und die Einflüsse von Außen zu schauen. Wir müssen auch die kulturellen Informationen untersuchen, die Menschen genutzt haben, um sowohl ihr eigenes Leben als auch beträchtliche Teile der Natur zu gestalten.

Die Bausteine kultureller Informationen sind jedoch nicht so eindeutig zu bestimmen, wie die Gene. Daher ist eine Definition kultureller Komplexität noch schwieriger. Zum einen sind kulturelle Konzepte flexibler und ändern sich schneller (als Gene), sie müssen aber auch von Menschen interpretiert/gedeutet werden.


Dies stellt diese Big History Theorie in sehr groben Zügen vor. Ich habe mich dabei sehr eng an Fred Spiers Beitrag in
David C. Krakauer u. a. History, Big History & Metahistory gehalten, welches der Frage nachgeht, was Geschichte überhaupt ist, und wie man Geschichte oder besser Historie schreiben sollte.

Hier ein Link zum Beitrag: