Welche Hoffnungen und Erwartungen hatten die Big Historians.
Nun zu den Hoffnungen, die David Christian hatte bezüglich der Wirkung von Big History. Dazu habe ich mir den Artikel „The Return of Universal History“ (Die Rückkehr der Universalgeschichte) aus dem Jahr 2010 angeschaut. Hier kommt sehr explizit zum Ausdruck, aus welcher Motivation (vielmehr Frustration) heraus, David Christian die Geschichte von Anfang an erzählen wollte.
Ich finde es nämlich wichtig zu bedenken, dass Big History aus der Frustration heraus entstand, die mit einer zunehmenden Spezialisierung (in den Wissenschaften im allgemeinen und in der Geschichtswissenschaft im besonderen) einherging, wobei man leicht das Ganze größerer Zusammenhänge aus dem Blick verliert. David Christians Ansatz beruht also auch auf seinem Erleben als Universitätsdozent mit seinen Studenten. Big History sollte ein Studium der Vergangenheit von Anfang an sein und die Vergangenheit als Ganzes untersuchen, um so einen absoluten Rahmen für die Erforschung der Vergangenheit (History) zu liefern. Sein Buch „Maps of Time“ (2004, nicht ins Deutsche übersetzt) ist ein Beispiel für eine solche Geschichte.
Er erhoffte sich, dass Big History als Rahmen der Geschichtsschreibung die Menschen zu globaler Solidarität führt, zu globalen Bürgern macht, so wie einst die Nationalgeschichten ein Nationalgefühl hervorbrachten (und möglicherweise zu diesem Zweck überhaupt erst geschrieben wurden).
Er fragte sich, ob eine ökumenische Weltgeschichte sogar eine explizitere ideologische Dimension annehmen könnte, indem sie sich mit Bewegungen verbündet, die sich für die Förderung der Weltbürgerschaft, der kosmopolitischen Demokratie, des interkulturelle Dialogs und ähnlicher Projekte einsetzen. (Das wird übrigens untersucht von William Katerberg in dem Artikel „Is big history a movement culture“, Journal of Big History, Vol. 2, Nummer 1, 2018).
David Christian sah Big History in einer entscheidenen Rolle, die vielen globalen Probleme anzugehen, mit denen wir heute konfrontiert sind und dabei einige der Gefahren zu vermeiden, die in einer Welt mit Atomwaffen untrennbar mit Nationalismus verbunden sind. (Das war 2010 und die Probleme sind in den letzten 15 Jahren eher noch gravierender und mehr geworden, und da meine ich nicht mal die Atomkatastrophe vor der Christian sich fürchtete.)
Interessant ist auch, dass er sich der christlichen Wurzeln von Big History durchaus bewusst ist, sie aber offenbar nicht für problematisch hält oder in irgendeiner Weise für erwähnenswert in der BH Erzählung. Mir als maximal säkularem Menschen ist das erst aufgefallen, als ich bei Hesketh, Megill und Tischner (siehe Kritik) davon erfuhr.
Argumente für Big History sieht er im Aufkommen von „large-scale history“ und seine „largest-scale history“ scheint eine Variante davon zu sein. Zudem gibt es immer mehr Daten in der Geschichtswissenschaft, die man dafür heranziehen kann. Dabei legt er sehr viel Gewicht auf die chronometrische Revolution mit neuen naturwissenschaftlichen Datierungstechniken.
Seine Argumente für den größtmöglichen Umfang (largest-scale history) gipfeln in der Aussage, dass man die langfristigen Trends nur im großen Maßstab und im Rückblick erkennen kann.
Auswirkungen auf die Geschichtswissenschaft würden sich darin zeigen, wie es den Kontext der Geschichtswissenschaft verändert, die Art und Weise, wie Historiker ihre Forschung sehen, welche Fragen sie stellen und auf welche Weise sie zusammen arbeiten und wie sie den Sinn ihrer Forschung einschätzen.
Er hoffte, dass Historiker wieder nach großen paradigmatischen Mustern in der Menschheitsgeschichte suchen werden und sich ein Konsens darüber einstellen würde. Ja, man würde vereinfachende Perspektiven sehen, die eine tiefgreifende Ordnung in der Menschheitsgeschichte aufdecken. Zudem hoffte er, das die Big History Forscher diese Muster erklären können und auch, wie die Geschichte der Menschheit in die noch größere Geschichte zunehmender Komplexität im Universum passt. (Wie von Eric Chaisson beschrieben, worauf Fred Spier und andere aufbauen.)
Auswirkungen auf die Bildung, sofern es die Lehrpläne erreicht und die institutionellen und intellektuellen Barrieren überwunden sind:
Es sollte Schülern und Studenten helfen, die dem modernen Wissen zugrunde liegende Einheit zu erfassen und dem tiefen Bedürfnis nach einem weniger fragmentierten Blick auf die Wirklichkeit entsprechen. Weiterhin sollte es Schülern und Studenten helfen zu verstehen, dass Geschichte und Literatur, Biologie und Kosmologie keine separaten intellektuellen Inseln sind, sondern Teile eines einzigen, globalen und interdisziplinären Versuchs, unsere Welt zu erklären.
Gerade im Bildungsbereich sollte es Menschen aus vielen verschiedenen Lebensbereichen helfen, die komplexen Beziehungen zwischen unserer eigenen Spezies und der Biosphäre besser zu verstehen, was immer wichtiger wird angesichts der gefährlichen Folgen unserer erstaunlichen ökologischen und technologischen Kreativität als Spezies.
David Christian hielt es für wichtig, zu verstehen, wie und warum menschliche Gemeinschaften dazu getrieben sind, Wissen zu speichern und anzuhäufen, damit es uns helfen kann, selektiver damit umzugehen, wie wir diese erstaunliche Kreativität einsetzen. Dazu entwickelte er das Konzept des kollektiven Lernens.
Schließlich, so hoffte David Christian, sollte es den Menschen helfen, die der Menschheit zugrunde liegende Einheit zu verstehen. Und hier bezieht er sich ausdrücklich auf H.G.Wells und sein Buch „The Outline of History“ (Die Geschichte unserer Welt) dessen Werk die Annahme zugrunde liegt, dass Frieden die Schaffung gemeinsamer historischer Ideen erfordert. Jenes Buch des Schriftstellers und Science Fiction Pioniers H.G. Wells spielt insgesamt eine große Rolle in der Big History Gemeinschaft, da sich viele darauf berufen als Motivation, selbst in Japan.
Grob zusammen gefasst beruhen David Christians Hoffnungen also auf dem Wunsch nach Frieden zwischen den Völkern und einer Menschheit, die sich als eins ansieht, um die drohende ökologische Katastrophe abzuwehren, und das Mittel hierfür soll Big History sein.
Da meine erste Begegnung mit Big History Ende 2016 ein Gespräch auf der Webseite edge.org war, auch hiervon eine kurze Zusammenfassung, weil es meine Wahrnehmung doch sehr geprägt hat.
Dort argumentierte David Christian (2015) für eine moderne wissenschaftliche Ursprungsgeschichte folgendermaßen:
Er fand, wir haben uns heute an den Gedanken gewöhnt, dass die akademische Wissenschaft kein Sinn vermittelt, wie das institutionelle Religion tat und tut. Jedoch fand er den Gedanken falsch, dass die Moderne eine Welt ohne Sinn sein sollte. Stattdessen sah er uns auf einer intellektuellen Baustelle, auf der eine neue Geschichte konstruiert wird. Eine Geschichte, die mehr Kraft entfaltet als vorherige, weil sie global ist. Eine Geschichte, die nicht in einer bestimmten Kultur und einer bestimmten Gesellschaft verankert ist und die riesige Informationsmengen zusammenfasst. Eine Geschichte, die „full of meaning“ ist, also dem menschlichen Bedürfnis nach Sinn entspricht.
Da er nun seit 1989/90 Big History Kurse unterrichtete, wusste er wie viel Spaß den Studenten diese Kurse machten, wie sehr sie das große Ganze (the big picture) liebten, und nach all den Jahren lernte er auch jene Teile selbst zu unterrichten, die anfangs Kollegen aus anderen Fakultäten der Universität übernommen hatten.
Ihm ist aufgefallen, dass Schule und Unis eben diesen Sinn für das Ganze nicht mehr vermitteln, dass alles nur in Wissensfragmenten vermittelt wird, ohne den Versuch, all diese Fragmente zu einem großen Ganzen zusammen zu setzen.
Dennoch war er überzeugt davon, dass moderne (Natur-) Wissenschaft gute Antworten hatte auf Fragen wie: Was ist mein Platz im Kosmos? Was ist der Kosmos, von dem ich ein Teil bin. Bin ich als Mensch zentral, marginal? Was unterscheidet den Menschen von anderen Lebewesen? Ich las das als: Woher komme ich/der Mensch? Wer bin ich/der Mensch? Wohin gehe ich/der Mensch?
Vielleicht, so räumte er ein, hatte die Wissenschaft darauf keine perfekten Antworten, aber zumindest welche, die jungen Menschen, die versuchen sich in der Welt zu orientieren, ein ganzes Stück weiterhelfen.
Somit wird ziemlich klar, dass man eine moderne Ursprungsgeschichte erzählen wollte, die letztlich dieselbe Wirkung hat, wie die Ursprungsgeschichten traditioneller Religionen, aber eben basierend auf Wissenschaft. "A modern creation myth“ ein moderner Schöpfungsmythos.
In ihrem Buch für High School students Big History Small World - The Meaning of it All (Große Geschichte - Kleine Welt - was bedeutet das alles) regt Cynthia Stokes Brown ausdrücklich dazu an über die Bedeutung der Big History Erzählung nachzudenken.
Man musste sich auch notgedrungen immer wieder mit Religion auseinander setzen, einfach, weil Big History sehr attraktiv war für Leute, die mit den traditionellen Religionen (wie Christentum) nicht mehr viel anfangen konnten, aber nach einer neuen Religion suchten und in Big History das gefunden zu haben glaubten. So schwingt das Versprechen, mit Wissenschaft ein spirituelles Bedürfnis befriedigen zu können, immer unterschwellig mit. Mal mehr mal weniger explizit formuliert, von einigen Vertretern wie David Christian bejaht, von anderen wie Fred Spier eher verneint. Auch darauf geht Cynthia Stokes Brown in ihrem Buch ein.
Für mich zusammengefasst, wurde Big History in diesem Gespräch präsentiert als etwas, dass einem hilft, sich in der komplexen Welt von heute zu orientieren, indem man die gesamte Geschichte betrachtet, Mensch und Natur, zusammengefasst in einer "storyline".
In der Tat sind das alles sehr große Ambitionen und Ansprüche. Wie aber werden sie tatsächlich eingelöst? Es ist völlig klar, dass die Big History Praktiker Sinn in ihrer Arbeit sehen, aber kann Big History das Verlangen nach Übersicht und Orientierung bedienen, gar spirituelle Bedürfnisse erfüllen? Auch dazu werde ich noch etwas schreiben (müssen).
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