Kritik und Widersprüche


Ein wichtiger Punkt, wie sich für mich inzwischen (2025) herausgestellt hat. Siehe dazu auch Big History weltweit. In der Tradition von Sokrates, für den ein Leben, das nicht kritisch untersucht wird, es nicht wert ist, gelebt zu werden, denke ich, dass eine Big History, die ihre Voraussetzungen und Annahmen nicht kritisch prüft, es ebenso wenig wert ist, unterrichtet bzw. verbreitet zu werden. (Quelle des Zitates von Sokrates)

Hier greife ich Aspekte auf, die mich interessiert haben bzw. die mir sehr stark aufgefallen sind. Es ist also kein vollständiger Überblick über alle Kritikpunkte zu erwarten. Einige liegen zudem so weit im akademischen Diskurs, dass man sie als Nicht-Akademiker kaum angemessen durchdringen kann.

Auch auf den folgenden Seiten (Entdecken und Erkunden) folgenden wird immer wieder auf Widersprüche hingewiesen


Ian Hesketh - A History of Big History (2023) Buch, das aus seinem Artikel The Story of Big History (2014) hervorgegangen ist

Alan Megill - “Big History” Old and New: Presuppositions, Limits, Alternatives (2015)

Christian Geulen - Das große Ganze und seine Didaktik (2020)

Wolfgang Tischner - Vom Urknall bis zur Zukunft (2021)


In seinem Buch „A History of Big History“ unterzieht Ian Hesketh die in den Ansätzen von Fred Spier und David Christian formulierten Ansprüche einer kritischen Betrachtung und kommt zu dem Ergebnis, dass Big History eine aktuelle Version dessen ist, was schon zuvor versucht wurde, nämlich eine Art moderne Universalgeschichte zu schreiben. Hesketh sieht Big History als Teil eines allgemeinen zeitgenössischen Trends, die Geschichte der Menschheit in einen größeren, vom wissenschaftlichen Fortschritt geprägten zeitlichen Rahmen zu stellen. Man erkennt an, dass die Geschichte der Menschheit im Rahmen biologischer und geologischer Zeitskalen und Theorien verstanden werden muss. Was Big History von anderen Formen der sogenannten „Deep History“ einerseits oder der Umweltgeschichte andererseits unterscheidet, ist das Streben nach Universalität als Grundlage, versinnbildlicht durch David Christians Slogan: Big History bietet eine Ursprungsgeschichte, die sowohl von jedem Menschen handelt als auch für jeden Menschen gedacht ist. „Big History is an origin story that is both about everyone and for everyone.“ In dieser Hinsicht ähnelt es wiederum anderen populärwissenschaftlichen Studien der Geschichte des Menschen als Spezies.

Die Big History Ansätze von David Christian und Fred Spier haben also den Anspruch ein einziges universelles Geschichtsnarrativ zu schaffen, das die wichtigsten Fakten enthält, die für die Geschichte der Menschheit relevant sind. Diese zusammengefassten Fakten sind nach den Erkenntnissen der zeitgenössischen Wissenschaft geordnet, und zwar nicht als eine Reihe unzusammenhängender Theorien und Gesetze, sondern als integrierte Wissensparadigmen, zusammengehalten durch den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik und die universelle Evolution.


Die Behauptung, dass Wissenschaft auf diese Weise integriert werden kann, stützt sich weitestgehend auf E.O. Wilsons Konzept der „consilience“, der davon ausgeht, dass es eine zugrundeliegende universelle Wirklichkeit gibt, welche die verschiedenen Wissenschaften verbindet und durch synthetische Naturgesetze dargestellt werden kann. Daraus ergibt sich für Big History die Aufgabe, diese wenigen vereinheitlichenden Gesetze als Grundlage für die Big History Erzählung zu nutzen. Fred Spier formuliert diesen Anspruch mit den Worten: eine historische Theorie von Allem zu formulieren, m E. in Analogie zu dem was in der Physik „theory of everything“ genannt wird, sich aber nur auf die Physik bezieht, wozu man im Deutschen oft einfach Weltformel sagt. Also eine Art Weltformel der Geschichte. Oder, wie der deutsche Titel von Fred Spiers ersten Buch andeutet: „Was die Geschichte im Innersten zusammenhält“, Englisch: The Structure of Big History.

Einer der Quellen, die Hesketh in seine Untersuchung einbezieht ist ein Artikel von Alan Megill „Big History“ alt und neu: Annahmen und Voraussetzungen, Grenzen, Alternativen. English: “Big History” Old and New: Presuppositions, Limits, Alternatives, in Journal of the Philosophy of History, 2015 der weitere interessante Fakten zum Thema frühere Versuche einer Universalgeschichte zutage fördert.

Zunächst muss man hier die christlichen Wurzeln anerkennen. Megill legt außerdem dar, worin der Unterschied zwischen einer „largest-scale“ (größtmöglich angelegten) Geschichte und einer bloß „large-scale“ groß angelegten Geschichte ist. Letztere ergibt für ihn deutlich mehr Sinn. Und: „largest-scale“ Geschichte beinhaltet für ihn:

A) größtmöglicher Umfang
B) anerkannt als Geschichte aller Menschen, unabhängig davon, wo sie leben
Oder in David Christians Worten: eine Geschichte über alle Menschen und für alle Menschen.

An seinem Artikel fand ich sehr interessant, dass diese Tradition einer Universalgeschichte, damals auch „Weltgeschichte“ genannt, ausgerechnet in Deutschland seit Mitte des 16. Jahrhunderts bis ins 19. Jahrhundert hinein floriert hat. Hier verweist er auf: A. de Melo Araújo, Weltgeschichte in Göttingen: Eine Studie über das spätaufklärerische universalhistorische Denken, 1756–1815 (Bielefeld: transcript Verlag, 2012)

Damals freilich galt als Geschichte nur das, was mit der christlichen Erzählung vereinbar war, und das Christentum als einzig wahre Religion anerkannte.
An der Universität Göttingen, so Megill, wurde das Genre der Universalgeschichte trotz seiner Beliebtheit als Vorlesungsfach in Frage gestellt und schließlich verworfen. Man kann daher sagen, dass sich die Idee einer Universalgeschichte anhaltender (oder immer mal wieder aufkommender) Beliebtheit erfreut.
Die Urform der größtmöglich angelegten Geschichte sieht Megill in einer theologisch begründeten Universalgeschichte. Big History ist nun neu in dem Sinne, als sie bis zum Urknall (dem vermeintlichen Beginn des Universums - zur Erinnerung, Wissenschaft bringt stets Hypothesen hervor, niemals aber endgültiges Wissen) zurückgeht, bzw. dort ihren Anfang nimmt. Big History is allerdings nicht neu in ihrem Streben nach einer Totalität, die für alle Menschen gilt. Die David Christian wie oben zitiert ausdrückt als Geschichte über alle und für alle Menschen.

Nun entging den europäischen Gelehrten nicht, dass es Menschen gab, die außerhalb des Rahmens ihrer christlichen Religion lebten, was die Frage aufwarf, wie sollte man die in den Rahmen einer christlichen Heilsgeschichte einordnen? Die angenommene Einheit der Menschheit (begründet durch das Christentum) war damit in Frage gestellt.

Schon der französische Rechtsgelehrte Jean Bodin (1530-1596) befasst sich mit der Thematik. Megill schreibt: „Nach Bodin kann die Geschichte der Menschheit entweder universell oder partikulär sein. Partikuläre Geschichten konzentrieren sich auf das, was im Leben eines einzelnen Menschen oder höchstens eines einzelnen Volkes denkwürdig ist. Die Universalgeschichte erzählt die Taten „vieler Menschen oder Staaten“ und kann dies tun, indem sie sich entweder mit mehreren Völkern oder mit allen Völkern befasst, deren Taten uns überliefert sind. Welcher Weg auch gewählt wird, er kann auf vielfältige Weise beschritten werden – als Annalen, Chroniken oder Chronologien, als Geschichte dessen, was in Erinnerung geblieben ist, oder in Form eines Tagebuchs, das die Taten eines jeden Tages wiedergibt. Aber auf welche der „vielen Menschen oder Staaten“ sollte sich der Universalhistoriker konzentrieren? Bodin hatte keine allgemeine Antwort auf diese Frage, und er war sich dessen durchaus bewusst.“

Weiterhin erwähnt Megill August Ludwig von Schlözer (1735–1809) und seinen Beitrag zur Universalgeschichte: Vorstellung einer Universal-Historie, eine Art Handbuch zu seinen Vorlesungen, welches jedoch keine Universalgeschichte als solche enthielt, sondern eine Reihe von Überlegungen zur Unmöglichkeit, jemals eine kohärente Universalgeschichte (der Menschheit) zu schreiben.
Auch Schlözer denkt über verschiedene Methoden nach die Völker zu ordnen, kommt aber zu keinem Schluss außer dem, dass es sich um ein schwer lösbares Problem handelt.

Megills zentrale Schlussfolgerung ist es, dass Geschichte nicht als festehendes Narrativ verstanden werden sollte, sondern als dynamischer Erkenntnisprozess. Jede Darstellung von Geschichte muss nach Erkenntnisgewinn und Einsichten betrachtet werden.

Er sieht dabei folgende Gefahren in dem Versuch einer Universalgeschichte (largest-scale).
Per definitionem strebt Universalgeschichte (oder andere Formen der größtmöglich angelegten Geschichte) nach einer Totalisierung. Diese hat Konsequenzen, die sowohl angesprochen werden müssen, als auch durchgesprochen.

Erstens beruht diese Art von Geschichte auf der sehr weitreichenden Annahme, dass die grundlegenden Prinzipien menschlicher Gesellschaftsordnungen bekannt sind und ebenso der wahrscheinliche weitere Verlauf. Megill bezweifelt, dass diese Annahme gerechtfertigt ist.

Zweitens sieht er einen Widerspruch zur Grundannahme der akademischen Disziplinen und der Wissenschaft im Allgemeinen: Wissenschaftler sind auf der Suche nach neuem Wissen. Wenn man also davon ausgeht, dass der grundlegende Verlauf der Menschheitsgeschichte schon bekannt sei (siehe Erstens), dann reduziert man jedes neue Wissen (aus Sozialwissenschaften und Geschichte) auf das Niveau einer unwichtigen Anekdote.

Drittens findet Megill, dass in einer wie auch immer gearteten „Big History“ zwangsläufig Besonderheiten und vermeintliche Ausreißer aus dem Bild fallen. Man muss nämlich über DIE menschliche Gesellschaft schreiben, nicht über menschliche Gesellschaften (die ja durchaus sehr unterschiedlich sind), sonst wird die Geschichte zu lang. Und man braucht eine Grundlage in Form einer Theorie darüber, was grundsätzlich die treibende Kraft im Universum ist, wenn man nicht auf die Religion zurückgreifen will.

Viertens sieht Megill, wie auch schon Pascal Nouvel in seiner Betrachtung der 4 Arten von Ursprungsdiskursen, dass die große Geschichte zum Mythos tendiert.

Das große Problem, das Megill dabei sieht, ist, dass alles, was nicht zu den Grundannahmen der Geschichte passt (also in die übergreifende „storyline“) einfach weggelassen wird.

Schaut man sich aber Big History auf der Webseite des OER Projects an, dass sieht man genau das, ein feststehendes Narrativ, das immer noch den 8 Schwellen zunehmender Komplexität folgt. Unbeachtlich der Diskussion darüber innerhalb der BH Gemeinschaft, unbeachtlich der aktuellen Diskussion darüber, wie Wissenschaft sich vielleicht ändern muss, siehe z.B. in The Blind Spot von Gleiser, Frank, Thompson

Nimmt man Wissenschaft als Erkenntnismethode ernst (so wie Schlözer in Göttingen im 18 Jh.) dann muss man anerkennen, dass es auch mit neuester radiometrischer Datierungstechnik keine Ursprungsgeschichte geben kann, die Menschheitsgeschichte so darstellt, dass sich wirklich alle Menschen davon angesprochen fühlen können. Das wurde mir sehr eindrücklich klar, als ich begann mich mit indigenen Weltbildern zu befassen. Darauf muss ich also auch noch zu sprechen kommen.


Christian Geulen sieht David Christians Buch Big History (EN Origin Story) von 2018 als den Versuch ein ultimatives WAS ist WAS Buch zu schreiben, sogar in Tonfall und Sprache erinnert es Geulen an diese beliebte Reihe, wo nichts zweifelhaft ist und alles mit der beruhigenden Sicherheit eines allwissenden Erzählers berichtet wird, als wolle man seinen Kindern die Welt erklären. Für Geulen setzt Christian „aber nur fort, worauf sich die Popularisierung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse seit über 100 Jahren spezialisiert hat: Je weniger die tatsächlichen, meist mathematischen Modelle der Forschung dem Fachfremden auch nur ansatzweise verstehbar sind, desto wort- und bildgewaltiger werden deren eigentlich nur vorläufige Ergebnisse als neues Wissen präsentiert – und das immer so, als würde es nahtlos und kumulativ an vorangegangenes Wissen anschließen.“ Und das hat seinen Preis: denn der „gigantische Falsifikationsprozess … in dessen Verlauf ständig unbrauchbares, banales oder sich später als falsch herausstellendes Wissen produziert wird, bleibt … so gut wie unsichtbar.“

Für Geulen hat Big History nichts mehr mit Geschichte im Sinne der Geschichtswissenschaft oder auch nur mit historischer Bildung zu tun. Darin stimmt er wohl mit Megill überein.

Den Erfolg von Big History erklärt sich Geulen damit, dass man die Annahmen und Versprechen der Aufklärung übernommen hat, ich möchte hinzu fügen, weitgehend unkritisch sogar. Für Geulen ist Big History das Ergebnis einer Mischung aus „Globalkatastrophenangst und Omnipotenz-(Allmachts-)phantasie“, vielleicht sogar die Rechtfertigung für gewisse Lösungsansätze sämtlicher Weltprobleme.


Wolfgang Tischner fragt sich, ob Big History nun den versprochenen historiographischen Aufbruch bringt und findet, dass Big History lediglich eine neue Perspektive einbringt, menschliche Geschichte aus einem naturwissenschaftlichen Kontext heraus neu zu deuten. Im Grunde eine Position, wie sie auch Armando Viso vertritt. Tischner merkt an, dass es Big History an einer eigenständigen Methodik fehlt, und dass der schiere Umfang zu dem Problem führt, dass ein Autor entweder nicht bewandert genug in den Naturwissenschaften ist, oder nicht bewandert genug in historischer Methodik. Zudem fehlen ihm, Stand Ende 2021, Forschungsarbeiten, die den Ansatz operationalisieren. Tischner versteht BH daher eher als historiographische Reaktion auf die Globalisierung der Welt, die Anfang der 1990er Jahre ja voll im Gang war. Auch Tischner sieht, wie Hesketh und Megill einen religionsfreien Universalismus und merkt an, dass man in Zeiten wachsender Ferne zum christlichen Weltbild (obgleich man darin aufgewachsen ist) einen solchen universalistischen Ansatz als etwas fundamental Neues präsentieren kann. Mit anderen Worten, man kennt die Geschichte der Universalgeschichte nicht mehr. Und folgerichtig sehen sich die Big Historians ja auch eher in der Tradition eines Alexander von Humboldt als in der Tradition früherer Universalgeschichten, obgleich für jemanden wie Tischner, der diese kennt, die Parallelen frappierend sind: in der säkularisierten Welt wird aus dem Schöpfungsakt der Urknall und anstelle Gottes nimmt man Rückgriff auf die Naturgeschichte. Heraus kommt eine lineare Entwicklung im Universum in Richtung zunehmender Komplexität. Obgleich es ja auch denkbar ist, wie man in der Antike auch dachte, dass die Entwicklung zyklisch verläuft.

Immerhin hält Tischner es für sehr berechtigt, unser Bewusstsein für die Interdependenz (gegenseitige Abhängigkeit) menschlichen Handelns mit naturwissenschaftlichen Gegebenheiten als auch mit der belebten und unbelebten Umwelt zu schärfen. Und unterhaltsam ist Big History allemal in der Form, wie es im Internet vermarktet wird.

Nur, so möchte ich hinzufügen, gibt es für dafür wesentlich besserer Ansätze, die nicht gleich das große Ganze postulieren, einem solchen Verständnis aber wesentlich näher kommen. Ich musste diese allerdings erst finden. Und das ist ganz insgesamt das große Problem heutzutage. Man ertrinkt in Informationen, hat aber keine Strategie, die richtigen, wirklich wichtigen Informationen zu finden. Da ist ein Angebot wie Big History wie ein Strohhalm, an dem man sich gerne festhält. Auch das trägt ganz sicher zum Erfolg des Genres bei.


Quellen:

Kritik von Christian Geulen, Historiker
https://zeithistorische-forschungen.de/3-2020/5886

Kritik von Wolfgang Tischner, Konrad Adenauer Stiftung
https://www.kas.de/de/web/die-politische-meinung/artikel/detail/-/content/vom-urknall-bis-zur-zukunft

Kritik von Alan Megill, Historiker

“Big History” Old and New: Presuppositions, Limits, Alternatives
in Journal of the Philosophy of History, Online-Publikationsdatum: 14 Aug 2015 (Englisch und Paywall)

Ian Hesketh - siehe Literatur II


Bei aller Kritik müssen wir uns aber auch anschauen, was David Christian sich erhoffte von Big History. Dazu habe ich mir den passenden Artikel „The Return of Universal History“ Die Rückkehr der Universalgeschichte aus dem Jahr 2010 angeschaut. 



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