Hier berichte ich über Big History weltweit.
2025 schreibt der gegenwärtige Präsident der IBHA (International Big History Association) Daniel Barreiros von der Federal University of Rio de Janeiro (PhD in History,
Professor, Institute of Economics) einen Artikel zur für Dezember geplanten IBHA (online) Konferenz "For a New Big History: theory, methods, objects, perspectives” - Für eine neue Big History: Theorie, Methoden, Ziele, Perspektiven - mit dem Titel:
Of echo chambers and transdisciplinary dreams: Big History on the crossroad - Von Echokammern und transdisziplinären Träumen: Big History am Scheideweg.
Seine Einschätzung im Abstrakt des Artikels deckt sich weitgehend mit meiner Erfahrung der letzten Jahre, in denen ich sehr aktiv im Europäischen Big History Netzwerk war. Daher hier stichpunktartig seine Kritik an der Big History (abgekürzt BH) Gemeinschaft.
- BH langsam etabliert als anspruchsvolles akademisches Gebiet
- Schlägt integrierte Erzählung der Vergangenheit, vom Urknall bis in Gegenwart vor
- Will damit Natur- und Geisteswissenschaften zusammenbringen
- BH Leute berücksichtigen jedoch keine Kritik, oder nicht angemessen
- Hypothese des Artikels: Mangel an interner Reflexion trägt zur Bildung einer BH-Echokammer bei
- Echokammer: geschlossenes Diskurs-System, indem Ideen ständig bekräftigt und wiederholt werden, ohne diese mit abweichenden Standpunkten zu konfrontieren
=> bringt epistemische und soziale Risiken mit sich
> fördert Bestätigungsfehler
> behindert kritische Entwicklung
> isoliert BH von externen Herausforderungen
- Literatur zum Thema Echokammer legt nahe:
> Aufrechterhaltung durch Mechanismen der Wiederholung, Isolation und symbolischen Kohäsion
=> diese Eigenschaften zeigen sich in der Art und Weise, wie BH mit Kritik aus Humanwissenschaften, Wissenschaftsphilosophie und alternativen Erkenntnistheorien umgehen =>> BH Leute widersetzen sich dieser Kritik
- Artikel systematisiert wiederkehrende Kritikpunkte, thematisch gegliedert:
> Verlust des Fokus auf menschliches Handeln (agency) und
> Verlust des Fokus auf traditionelle historische Analyse
> methodologische und erkenntnistheoretische Spannungen mit Geisteswissenschaften
> impliziter Eurozentrismus
> providentialistische (vorsehungsgläubige) Erzählstruktur
=> spiegelt Whig-geschichtliche* Interpretation der Geschichte unter neuem Deckmantel wider
> Wiederbelebung veralteter westlicher Fortschrittsideologien, neutral formuliert als „wissenschaftliche Geschichte“
> übermäßige Vereinfachung und deterministische Tendenzen
> hybride Natur der Big History als moderner Mythos und Wissenschaft
> interdisziplinärer Rahmen, als asymmetrisch wahrgenommen, bevorzugt Modelle aus den Naturwissenschaften gegenüber denen aus Geisteswissenschaften
> Schwierigkeit der BH echte multiskalare Ansätze zu fördern, die nach nicht-deterministischen Vermittlungen zwischen kurzzeitigen menschlichen Erfahrungen und großräumigen makrohistorischen Prozessen suchen
=>> viele Kritikpunkte berechtigt und unerlässlich für erkenntnistheoretischen Fortschritt des Fachgebietes
=> bleiben sie unberücksichtigt => Verdacht genährt, dass:
> BH funktioniert zunehmend als selbstständige Enklave
> untergräbt ihre universalistischen Ambitionen
> schränkt ihr Potenzial ein, selbst gesetzte Ziele zu erreichen
(Bsp. Entwicklung zu wirklich transdisziplinärem Forschungsgebiet)
Artikel will Diskussion anstoßen, keinen Reformplan präsentieren
> in welche Richtung könnte sich BH entwickeln, um innere Spannungen und Kritik von außen anzugehen?
> notwendig, grundlegende Annahmen zu überdenken, die vereinigenden/universalistischen Ambitionen (unifying aspirations) zugrunde liegen
=>> erste Schritte hin zu breiteren, fortlaufenden Diskussion über erkenntnistheoretische Zukunft des Fachgebietes
* Wikipedia hat keinen deutschen Artikel zum Thema Whig-Geschichte, daher hier eine Übersetzung des leicht gekürzten Überblicks aus dem englischen Eintrag. Die Referenzen wurden entfernt. Originalartikel hier:
Die Whig-Geschichtsauffassung (oder Whig-Geschichtsschreibung) ist ein Ansatz der Geschichtsschreibung (Historiographie), der die Geschichte als einen Weg von einer unterdrückten und finsteren Vergangenheit zu einer „glorreichen Gegenwart” darstellt. Die beschriebene Gegenwart ist in der Regel eine mit modernen Formen der liberalen Demokratie und konstitutionellen Monarchie: Ursprünglich war der Begriff eine Bezeichnung für die Metanarrative, die die Einführung der konstitutionellen Monarchie in Großbritannien und die historische Entwicklung des Westminster-Systems priesen. Der Begriff wurde auch in anderen historischen Disziplinen außerhalb der britischen Geschichte (z. B. in der Wissenschaftsgeschichte) weit verbreitet verwendet, um „jede Ausrichtung der Geschichte auf eine im Wesentlichen teleologische Sichtweise des historischen Prozesses“ zu beschreiben. …
Im britischen Kontext betonen Whig-Historiker den Aufstieg der Verfassung, der persönlichen Freiheiten und des wissenschaftlichen Fortschritts. Der Begriff wird oft allgemein (und abwertend) für Geschichtsdarstellungen verwendet, die die Vergangenheit als unaufhaltsamen Marsch des Fortschritts in Richtung Aufklärung darstellen. Der Begriff wird auch in der Wissenschaftsgeschichte häufig verwendet, um eine Geschichtsschreibung zu bezeichnen, die sich auf die erfolgreichen Reihen von Theorien und Experimenten konzentriert, die zu den heutigen Theorien geführt haben, während gescheiterte Theorien und Sackgassen ignoriert werden.
Die Whig-Geschichtsschreibung legte den Grundstein für die Modernisierungstheorie und den daraus resultierenden Einsatz von Entwicklungshilfe in aller Welt nach dem Zweiten Weltkrieg, der ... als destruktiv für die Empfänger kritisiert wurde.
Nachfolgend meine Übersetzung eines Artikels anlässlich des zehnten Jahrestages der Gründung der International Big History Association (IBHA), mit freundlicher Genehmigung von Lowell Gustafson, der den Artikel verfasst hat. Das Original (Englisch) finden Sie hier.
Zehnter Jahrestag der Gründung der IBHA (2020)
Im August 2010 veranstalteten Alessandro Montanari und Walter Alvarez im Osservatorio Geologico de Coldigioco, Italien, einen Workshop mit geologischen Exkursionen für eine Gruppe von Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen und von verschiedenen Kontinenten. Coldigioco war ein passender Treffpunkt für Menschen, die alle auf ihre eigene Art und Weise über die Entwicklung im Laufe der Zeit forschen. Das Motto dieses Observatoriums lautet "Ex Libro Lapidum Historia Mundi" (Aus dem Buch der Gesteine kommt die Geschichte der Welt). Sandro und Walter brachten die Gruppe zu einigen Orten in der Nähe, wo sie erklärten, wie die Gesteine, die wir uns anschauten, eine Geschichte des Kosmos, der Erde und des Lebens erzählten. Es war in der Nähe der schönen Stadt Gubbio, in den Apenninen, wo Walter Alvarez zum ersten Mal den Beweis für einen katastrophalen Einschlag eines Asteroiden vor etwa 65 Millionen Jahren entdeckte. Spätere Arbeiten zeigten, dass die Kollision den Chicxulub-Krater auf der Halbinsel Yucatán in Mexiko sowie globale Auswirkungen verursachte, die dem Zeitalter der Dinosaurier ein Ende bereiteten. Dieses Ereignis ermöglichte die Evolution der Säugetiere, die schließlich zur Menschheit führte.
Eine dünne Schicht aus Iridium in der Nähe von Gubbio, Italien, erzählte den erfahrenen Geologen, wie die Geschichten des Kosmos, der Erde, des Lebens und der Menschheit miteinander verwoben sind. Die Künstlerin Paula Metallo half der Gruppe in Coldigioco dabei, eine Vergangenheit zu visualisieren, die einst in alten Meeresböden aufgeschichtet heute als Berge sichtbar ist und für uns von Bedeutung. Geologie und Astronomie, Malerei und Erzählung, Natur- und Geisteswissenschaften, verwoben in einem dynamischen, expandierenden Universum des Wissens. Zusammen erzählten sie eine Geschichte, die zwar durch das alte Rom verläuft, aber auch viel weiter zurück als sein antikes Reich, durch das Gebirge der Apenninen.
Diese Erlebnis in Coldigioco machte allen Anwesenden klar, dass die Vergangenheit eben nicht auf jene Zeit beschränkt ist, seit der Mensch die Schrift entwickelt hat. Diese jüngere Vergangenheit lässt sich am besten verstehen, wenn man sie in die gesamte bekannte Vergangenheit einordnet, wie sie uns von Steinen, aber auch von versteinerten Knochen, Blut und Licht erzählt wird. Big History nimmt uns mit auf eine höchst unwahrscheinliche Reise vom Urknall über die Sterne, die Erde, das Leben und schließlich der Menschheit. Die Realitäten, die sie präsentiert, lassen uns staunen.
Jedem in Coldigioco war klar, dass es viele andere gibt mit derselben Leidenschaft für dieses immense Gespür dafür, wie die Vergangenheit uns in die Gegenwart geführt hat und uns in die Zukunft katapultiert. So saß die Gruppe an einigen warmen italienischen Sommernachmittagen auf der Terrasse von Sandro und Paula und arbeitete die Gründung einer International Big History Association (IBHA) aus. Man hatte eine Organisation vor Augen, in der Menschen aus allen wissenschaftlichen Disziplinen und Lebensumständen zu einer evidenzbasierten Erzählung der Naturgeschichte der gesamten bekannten Vergangenheit und zu durchdachten Projektionen für die Zukunft beitragen konnten. An den Abenden, nach wunderbarem Essen mit Pasta und Wein, spielten Walter und andere Teilnehmer Musik auf dem Klavier, klimperten sanft auf der Gitarre und sangen unter dem dunstigen Mond. Strenge Wissenschaft, kreative Kunstfertigkeit, messbare Beweise, Schönheit und die Freude am gemeinsamen Interesse - all das war miteinander verbunden.
Seitdem ist die kleine Gruppe zu einer Organisation mit Hunderten von Mitgliedern angewachsen, die Konferenzen in den Vereinigten Staaten, Italien und den Niederlanden abgehalten hat und nächsten Sommer in Indien. Ein Journal of Big History (Englisch) veröffentlicht von Fachleuten begutachtete wissenschaftliche Arbeiten und Origins (Englisch), das Bulletin für die Mitglieder der Gruppe, informiert über ihre Gedanken und Äußerungen. Jedes einzelne IBHA-Mitglied hat seine eigene Geschichte, eingebettet in eine 13,82 Milliarden Jahre lange kosmische Geschichte, eine 4,567 Milliarden Jahre lange Geschichte der Erde und eine 300.000 Jahre lange menschliche Geschichte - und trägt zu dieser langen Geschichte bei. Auch die IBHA hat ihre eigene Geschichte, deren Ursprung im Geologischen Observatorium Coldigioco liegt, wo wir die Geschichte der Welt in der Bibliothek der Gesteine fanden.